Orga

Ich bin Kim, Formwandler aus Dschatarg.
Die Welt heute ist so einsam geworden, dass kaum einer von Euch noch wissen wird, was ein Formwandler ist oder wo Dschatarg liegt.

Aber das tut nichts zur Sache. Ich bin sowohl Göttervogel als auch Mensch, und der Weg zu meiner Welt ist für Euch schon lange verloren gegangen. Die Menschen der Erde verachten uns, ja, sie gehen mitunter sogar soweit, dass sie unsere Existenz leugnen! Die Ärmsten! Manchmalt tun sie mir richtig leid. Kasè .... Wo war ich?

Ich wollte Euch von Orga erzählen, und einem der bedeutendsten Ereignisse ihres Lebens.

Orga war ein Einhorn, mit blauer Mähne und einem Horn, länger als ein Menschenkind und so hart wie Drachengold.

Zu dem Zeitpunkt, als ich sie kennenlernte, war sie schon so alt, dass ihre Kräfte bereits zu schwinden begannen. Wenn ihr nun bedenkt, dass Einhörner nahezu unsterblich sind und Tausende von Erdenjahren im Vollbesitz ihrer Kräfte überdauern können, könnt Ihr Euch vorstellen, wie alt sie gewesen sein musste. Sie wurde meine Lehrerin, obwohl sie mich für einen kleinen, schwachen Menschen, der ich damals auch noch war, hielt.

Tagtäglich erzählte sie mir eine der vielen tausend Geschichten ihres Lebens und lehrte mich all die Dinge, die ich wissen musste.

Eines Morgens nun, als ich fragte, ob ich heute wieder die Geschichte eines Krieges oder eines großen Helden zu hören bekäme, lächelte sie nur leise auf Einhornart. "Nein, Kim. Heute - " sie hielt kurz inne, wie um sich ihrer Sache sicher zu werden, dann sagte sie: "Heute werde ich dir vom Tod erzählen."

"Vom Tod?" Ich war sehr verwundert, war doch bis jetzt der Tod nicht mehr und nicht weniger gewesen als das Ende der meisten ihrer Geschichten.

Orga ließ sich vorsichtig mir gegenüber zu Boden sinken und sah mir fest in die Augen.

"Hast du dir schon jemals darüber Gedanken gemacht, was der Tod eigentlich ist?"

"Nein, Herrin. Ich weiß nur, dass ihn die Menschen fürchten und entsetzliche Geschichten von ihm erzählen." Ich schüttelte mich. Auch heute schüttelt es mich noch manchmal, wenn ich an die Lieder denke, die meine Mutter und mein Bruder abends, wenn es dunkel wurde, am Feuer gesungen haben.

"Diesen Tod meine ich nicht. Keinen jener Tode."

"Welchen dann?"

"Schweig und hör zu:



Es war am 11. Sin in der warmen Jahreszeit, als ich mich nicht unweit der Berge von Dikar befand. Es war brütend heiß und ich wollte nicht gesehen werden. Ein Einhorn bringt in jenen Gegenden Unglück und das letzte, was ich mir wünschte, war, jemanden unglücklich zu machen.

Also verbarg ich mich in einem kleinen Wäldchen, um auf die Nacht zu warten. Die Nacht kam und ich hatte mich gerade wieder auf den Weg gemacht, als es dunkel um mich herum wurde. Nicht dunkel, so, wie es immer ist, sondern anders. Der Mond und die Sterne waren wie ausgeblasen, nicht einmal mehr mein weißes Fell durchdrang die Finsternis. Doch das Schlimmste war: Ich verspürte keinerlei Magie! Nicht den kleinsten Funken Zauberei! Du kannst dir mein Entsetzen kaum vorstellen, denn ein Wesen, das ohne Magie den Himmel verdunkeln konnte, wäre so mächtig, wie es einst Atlas war, als er noch die Welt trug! Ung gegen ein solches Wesen anzutreten - wer würde es wagen!

Furcht machte sich in mir breit, ein Gefühl, das ich bis dahin nicht gekannt hatte und auch später nur noch einmal gespürt habe.

Die Angst wurde schier übermächtig in mir und ich konnte nur unter Aufwand meiner ganzen Kräfte ruhig bleiben.

"Wer ist da?" schrie ich, aber meine Stimme brach sich an einer unsichtbaren Wand, die irgendjemand oder irgendetwas um mich herum errichtet hatte. Die Antwort blieb aus und meine Furcht ließ mich erbeben.

Ich rannte gegen die Mauern meines kleinen Gefängnisses und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass es keinen Ausweg gab. Ich saß in diesem kleinen, engen Käfig fest, wie ein Schuppenvogel in der Falle!

"Lass mich raus!" rief ich dem Wesen zu, das mich eingesperrt hatte.

"Wozu?" antwortete eine kraftlose, einsame Stimme.

"Ich möchte weiter!"

"Wohin?"

"Nach Larad! Bitte, lass mich raus!"

Ja, ich muß gestehen, damals habe ich ihn richtig angefleht mich freizulassen, habe gebettelt und getobt wie ein zum Tode Verurteilter. Alles was ich zu hören bekam, war "Wozu?" und "Warum?".

Nach einer Weile gelang es mir, mich zu beruhigen, so schwer es mir auch fiel. Ich legte mich in eine Ecke und zog die Beine fest an meinen Körper, als ob ich noch ein Fohlen wäre.

Irgendwann, Tage oder Stunden später, ich hatte jeglichen Bezug zur Zeit verloren, meldete ES sich wieder.

"Man nennt dich Orga."

Verblüfft stand ich auf. "Woher weißt du das?"

"Man hat es mir gesagt."

"Wer - man?"

"Das ändert nun auch nichts mehr."

"Dann sag mir wenigstens, was du willst!"

Wieder herrschte Schweigen, so lange, dass ich die Hoffnung auf eine Antwort beinahe aufgab. Aber dann erhob ES doch wieder seine Stimme.

"Ich will dich etwas fragen."

"Mich?" Verdutzt sah ich auf.

"Dich."

Ich hörte ein leises Seufzen, wie ein müder Troll, der sich niederlegt.

"Wie ist es zu leben?"

"Was?!" Ich hatte mit vielem gerechnet, aber mit so etwas? Nein!

"Wie ist es zu leben? Du bist jung, du bist voller Kraft. Ich bin tot, schon tot, seit ich geboren wurde."

Obwohl ich nicht verstand, was ES damit sagen wollte, empfand ich Mitleid.

"Kann ich dir nicht helfen?"

ES lachte, leise und klappernd, als ob tausend kleine Knochen aufeinanderträfen. Mich fröstelte.

"Hast du denn noch nicht begriffen, wer ich bin? Ich bin der Tod, mir kann niemand helfen. Tag und Nacht umgeben mich die Herzen der Verstorbenen, junge und alte, schöne und hässliche, und alle jammern nach dem Leben, am meisten aber die, die ich zu mir geholt habe, als sie noch jung und hübsch waren. Verstehst du jetzt, warum ich frage?"

Mein Mut kehrte langsam zurück. Der Tod war nichts unbegreifliches, sondern etwas natürliches, ja beinahe alltägliches. Dass er auf einmal mit mir sprach, störte mich wenig. Ich war ein Wesen aus Turr!

Ich nickte leise. Mir wurde bewusst, wie entsetzlich es sein musste, nie sterben zu können.

"Kannst du mir meine Frage beantworten?"

Zögernd stand ich da. Die Spannung wurde beinahe greifbar, während ich nachdachte.

"Ich glaube nicht."

Ich spürte, wie enttäuscht der Tod war.

"Aber - " beeilte ich mich zu sagen, "ich mache dir ein Angebot."

Zugegeben, meine Idee erschien mir selbst verrückt, und doch wollte und musste ich diese einmalige Chance nutzen! Wie oft in seinem Leben spricht man mit dem Tod persönlich!

"Ich gebe dir meinen Körper für eine Zeit, wenn ich dafür an deiner Stelle ins Totenreich hinüber darf."

Meine Angst hatte ich inzwischen völlig verloren. Das hier war ein neues Abenteuer, in das ich mich voller Begeisterung stürzte, uneingedenk jeglicher Risiken.

"Und - dann, dann werde ich spüren, wie man lebt?"

Die kraftlose Stimme schien sich ein wenig gewandelt zu haben. Wenn es nicht so seltsam klingen würde ... ich würde sagen, sie sei lebendiger geworden.

"Vielleicht. Versuch es doch einfach!"

ES zögerte noch ein wenig, aber dann begann sich eine helle Schwärze in mir auszubreiten."



An diesem Punkt hatte Orga aufgehört zu erzählen und keine noch so große Bitte von mir konnte sie erweichen, mir zu verraten, was geschehen war.

Sie hatte wohl wirklich für einige Zeit in der Welt des Todes gelebt, aber sie schwieg darüber, was sich dort ereignet hatte.

"Diesen Ort, Kind, lerne selbst kennen. Nur das eine sollst du wissen, dass es ihn gibt, und dass auch du den dir zugeschriebenen Teil deiner Zeit dort verbringen wirst. Wie jedes Wesen, wenn es stirbt."

Und darum habe ich Euch diese Geschichte erzählt, auch wenn Ihr nur Menschen seid und die meisten unter Euch erst daran glauben werden, wenn sie dort sind.

Lebt wohl, Mislak, meine Freunde. Vielleicht werden wir uns dort wiedersehen, zu gegebener Zeit!